
Gasherbrum IV | Charles Dubouloz an der Shining Wall
„Der Berg wird dich auf die eine oder andere Weise Geduld lehren.“
Alpinismus bedeutet nicht nur, Gipfel zu erreichen, sondern die Regeln des Berges zu akzeptieren.
Gasherbrum IV (GIV) ist ein Gigant aus Fels und Eis im Karakorum, 7.925 Meter hoch. Doch die Geschichte des Alpinismus zeigt uns, dass er weit mehr ist als nur ein Berg. 1985 bestiegen die Alpinisten Wojciech Kurtyka und Robert Schauer seine Westwand im reinen Alpinstil. Es war eine außergewöhnliche und visionäre Leistung an einer der schwierigsten und steilsten Hochgebirgswände der Welt. Obwohl sie erschöpft nur wenige Meter unterhalb des Gipfels umkehrten, bleibt ihr Aufstieg ein Meisterwerk an Reinheit und Technik, das eine Ära prägte.
Bekannt als die „Shining Wall“, gilt die Westwand des GIV als Spiegelbild der Träume der besten Alpinisten der Welt. Sie wurde 1997 erstmals von drei koreanischen Alpinisten bis zum Gipfel durchstiegen, die eine neue Route über den zentralen Pfeiler eröffneten – jedoch im „schweren“ Stil mit Fixseilen und Hochlagern. Seitdem ist es trotz zahlreicher Versuche niemandem gelungen, neue Linien zu eröffnen oder die beiden bestehenden Routen an der Shining Wall zu wiederholen.
Die Herausforderung von Charles Dubouloz
In diesem Sommer reiste Charles Dubouloz, ein starker französischer Alpinist und Mitglied der Scarpa®-Familie, zusammen mit Symon Welfringer nach Pakistan, mit dem Ziel, an eben dieser Wand im reinen Alpinstil eine neue Route zu eröffnen. Doch ihr Abenteuer war kein Wettlauf zum Gipfel – es war vielmehr eine Prüfung des Wartens und der Geduld.
Wochenlang verbrachten sie im Basislager, die Ausrüstung bereit am Wandfuß, in Erwartung eines Wetterfensters, das nie kam. Ein zermürbendes Warten, ein wortloser Dialog mit dem Berg selbst.
Als sie schließlich den Versuch wagten, zeigte sich die Shining Wall unerbittlich. Die Bedingungen waren untragbar: kein Eis für Sicherungen, nur instabiler Schnee. Mit der Nullgradgrenze auf 6.000 Metern war die Hoffnung gering. Während Charles mit seiner Schneeschaufel ein Biwakband aushob, stürzte er in eine Gletscherspalte – glücklicherweise ohne Folgen. Kurz darauf fegte eine gewaltige Lawine durch das Basislager, mit einer erschreckenden Druckwelle. Eine nur knapp vermiedene Tragödie.
Nach diesen Ereignissen und dem enormen Energieaufwand, der sie höchstens auf 6.900 Meter brachte, beschlossen die beiden Franzosen den Rückzug. Das Risiko war zu hoch, und die Bedingungen am Berg eindeutig zu schlecht.
Geduld als Form mentaler Stärke
Wir haben Charles gebeten, seine Gedanken über das Warten zu teilen, denn einmal mehr zeigt uns eine Expedition, dass Alpinismus nicht nur aus Handeln besteht, sondern auch aus Reflexion und der Fähigkeit, auf den richtigen Moment zu warten.
Charles, Geduld ist eine wichtige Eigenschaft für Alpinisten. Könnten wir sie als eine Form mentaler Stärke definieren?
„Ehrlich gesagt bin ich von Natur aus kein geduldiger Mensch. Aber ich habe viel gelernt, und ich nenne das Erfahrung. In jedem Prozess, der zu einem Ergebnis führt, ist Geduld grundlegend. Besonders im Alpinismus, wo so viele Dinge außerhalb unserer Kontrolle liegen: das Wetter, die Bedingungen am Berg und so weiter. Aber ja, ich denke, es ist eine Form mentaler Stärke. Ein geduldiger Mensch kann während der Wartezeit Energie bewahren und dann effektiv sein, wenn es endlich Zeit zum Handeln ist. Jeder möchte Erfolg, am liebsten sofort. Aber der Berg wird dich, auf die eine oder andere Weise, Geduld lehren.“
Du bist auch Bergführer: Findest du dich manchmal dabei wieder, deinen Kunden die Kunst der Geduld zu lehren?
„Ich denke, ein Bergführer hat vor allem die Chance, selbst zu lernen, bevor er lehrt. Mit Kunden ist Geduld unerlässlich, denn sie gehen oder klettern nicht in deinem Rhythmus, und man muss sich ständig an die Bedürfnisse anderer anpassen. Was ich meinen Kunden manchmal vermittle, ist, dass man mit dem Berg nicht verhandeln kann. Er gibt die Regeln vor, und wir müssen sie befolgen. Auch wenn die Pläne auf dem Papier perfekt sind, manchmal muss man einfach länger warten.“
Wie verbringst du die Wartezeit im Basislager?
„Wenn ich auf Expedition im Basislager bin, verhalte ich mich ganz anders als sonst. Es ist, als wollte ich all meine Energie für das Kommende bewahren. Ich erinnere mich daran, dass ich hart trainiert, Opfer gebracht und die halbe Welt bereist habe, um am Fuß dieses schönen Berges zu stehen. Ich weiß, wie schwierig es sein wird, ihn zu besteigen. Deshalb brauche ich alles zu meinen Gunsten: Ich warte, ich ruhe mich aus, ich bleibe geduldig, denn wenn der Moment kommt – und nur dann – muss ich alles geben.“
Wie entspannst du dich, wenn du von solch einem Abenteuer zurückkehrst?
„Sobald ich aus Pakistan zurückkam, ging ich an einen meiner Lieblingsorte zum Hike & Fly, in der Nähe meines Wohnortes. Ich bin etwa eine Stunde aufgestiegen, habe den Schirm geöffnet und bin über den Ort geflogen, den ich liebe. Es war der beste Weg, um mich zuhause zu fühlen.“
Glaubst du, dass du zum Gasherbrum IV zurückkehren wirst?
„Ich glaube nicht, zumindest im Moment nicht. Ich bin in den letzten Jahren viel gereist, und jetzt möchte ich zu Solobegehungen in den Alpen zurückkehren. Für mich ist das eine kraftvolle Art, mich lebendig zu fühlen und wieder mit den tieferen Beweggründen in Kontakt zu kommen, die mich antreiben, Abenteuer zu leben und mich durch die Berge zu bewegen.“